MAYA McKECHNEAY ÜBER IHR REGIEDEBÜT »SÜHNHAUS«

Seit ich denken kann, habe ich in Räumen gefühlt und gedacht, über Räume gelesen, Räume wie Persönlichkeiten wahrgenommen, von Räumen geträumt. Eine meiner liebsten Erzählungen als Kind war »Der Untergang des Hauses Usher« von Edgar Allen Poe, und über den Horror-Haus-Roman »Das Kalkwerk« von Thomas Bernhard habe ich schließlich auch meine Abschlussarbeit an der Universität geschrieben.

Als Filmkritikerin und – ich mag das Wort nicht besonders, kenne aber kein besseres - Cineastin, gilt meine Liebe den filmischen Räumen der Angst: Haunted House-Filmen, von denen ich glaube, dass sie tief in uns etwas berühren. Ein Heim, das uns abstößt – eine Angst, die wahrscheinlich jeder irgendwo in sich trägt.

Der Freud-Schüler C.G. Jung hat die menschliche Psyche gerne als Haus beschrieben, in dem das Über-Ich im Dachboden herrscht, das Ich im Erdgeschoss, während das Es im Keller haust. Je nachdem, wie sehr man mit sich im Reinen ist, geht es im dunklen Untergeschoss zu. Ich glaube, dieses Bild gilt für Menschen wie für eine Gesellschaft. Je mehr man verdrängt, desto mehr rumort es im Keller, wo die ungeliebten Wahrheiten schlummern.

Die Geschichte des Sühnhauses hat mich schon lange beschäftigt, bevor ich sie als Film angedacht habe: Zunächst war da mal meine Faszination mit dem Wiener Kriminalmuseum, einem vorsintflutlichen Ort im 2. Wiener Bezirk, in dem blutige Leintücher, rostige Mordwaffen und Wachsabgüsse von Hieb- und Stichwunden ausgestellt sind. Auch eine Art Keller der Wiener Gesellschaft – ein Ort, der dem Abseitigen huldigt, zugleich aber selbst Abseitiges produziert, wenn es den Kopf einer weiblichen Brandleiche unter einem Glassturz ausstellt. Der kleine, schwarzverkohlte Kopf gehört einer unbekannten Brandtoten aus dem Ringtheater – wie er ins Museum gelangte, will dessen Leiter, ein Polizeihistoriker, nicht erzählen.

Mir kommt vor, dass hier ein Opfer zum zweiten Mal zum Opfer gemacht wird. In der Logik des Spukhausfilms, müsste es hier spuken, müsste ein Geist einfordern, dass seinem Körper Gerechtigkeit getan und er nach 135 Jahren endlich begraben wird. Aber gibt es überhaupt Geister?

Ich begann, mich für die Geschichte des Ringtheaterbrandes zu interessieren und – mir als Journalistin naheliegend - zu recherchieren, und war erstaunt. Erstaunt, wie gut dieses historische Ereignis dokumentiert ist. Und erstaunt, wie wenig es sich im Gedächtnis der Stadt gehalten hat. »Das Ringtheater? War das nicht das Gebäude, das vor dem Burgtheater am Ring stand?«, hörte ich immer wieder. Nein. Es stand an anderer Stelle. Und sein Brand war die größte Feuerkatastrophe der K&K-Monarchie. 400 Menschen starben am 8. Dezember 1881. Praktisch jeder in Wien kannte zumindest einen der Toten persönlich. Die Vorweihnachtszeit dieses Jahres war in Wien geprägt von tiefer, endgültiger Verzweiflung, die in Resignation und von oben verordnete Trauer überging.

Forscht man weiter, erfährt man, dass Kaiser Franz Josef I., Österreichs »guter Kaiser Franz«, an Stelle des abgebrannten Theaters ein kaiserliches Stiftungshaus errichten ließ, das er aus seiner Privatschatulle bezahlte. Im Volksmund hieß es bald nur das »Sühnhaus«, eine Bezeichnung, die sich auch auf Stadtplänen und Postkarten findet. Das Sühnhaus wurde von Rathaus-Architekten Friedrich von Schmidt gebaut: eine symbolische Entscheidung. Mit seinen neugotischen Spitzbügen wirkte das Sühnhaus am Ring wie eine kleinere Version des Wiener Rathauses. Ein Gebäude für Wien, das alles gut machen sollte. Das vergessen machen sollte, was am 8. Dezember 1881 geschehen war, dass nämlich die Wiener Polizei freiwillige Helfer mit Gewalt von einem Gebäude abgehalten hatte, in dem 400 Menschen verbrannten, erdrückt wurden und erstickten. Dass die so genannten Autorität, die Obrigkeit, grob versagt hatte. Dass es Anlass genug gab, aufzuschreien, den Staat zu kritisieren, einen Skandal, wenn nicht gar einen Aufstand zu machen. Aber den gab es nicht.

Stattdessen geschah nach dem 8. Dezember, was in Wien möglicher Weise System hat: Wut wurde in Trauer umgewandelt. Statt auf die Barrikaden zu gehen und Forderungen zu stellen, wurde nur hinter vorgehaltener Hand geraunzt. Auf der Straße sah man den offiziell choreographierten Trauerzug: allen voran schreitend jene Männer, die letztlich für die Tragödie verantwortlich waren.

Als ich mich mit der Geschichte des Sühnhauses befasste, erfuhr ich mit Erstaunen, dass Sigmund Freud zu den ersten Mietern gehört hatte: Merkwürdig, denn er war damals alles andere als wohlhabend. Um sich die Miete in diesem noblen, aber übel beleumundeten Haus zu leisten, versetzte er sogar seine goldene Uhr. Warum wollte er, der junge Nervenarzt, der gerade seine große Liebe, Martha, geheiratet hatte, ausgerechnet am ehemaligen Brandplatz wohnen? Er, von dem seine Schwester Anna schreibt, er habe selbst am 8. Dezember Karten für die Unglücksvorstellung im Ringtheater gehabt.

Was trieb ihn dazu, diesen Ort zu suchen, den alle anderen Wiener mieden? Im kaiserichen Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien gibt es Briefe von Firmen, die sich zeitgleich mit Freud im Sühnhaus eingemietet hatten, und die Mietnachlass forderten mit dem Argument: Die Kunden blieben ihnen aus, an diesem Ort, den ganz Wien mied. Der Schottenring 7 war der Ground Zero des Jahres 1881.

Freud aber blieb fünf Jahre an dieser Adresse. In seiner Wohnung im rückwärtigen Trakt des Sühnhauses, die auch als Ordination diente, gebar ihm seine Frau drei Kinder. Zur Geburt der ersten Tochter, Mathilde, ließ der Kaiser eine Porzellanvase schicken, zum Dank, dass an diesem finstern Ort wieder neues Leben erwacht sei.

Freuds Jahre im Sühnhaus waren beruflich wenig erfolgreich. Er mag das gleiche Problem gehabt haben, wie die Firmen im Haus: Gerade seine psychisch labilen Patienten dürften den Ort gemieden haben. Dutzende Menschen waren an dieser Stelle in ihrer Verzweiflung in den Tod gesprungen. Die Wiener Zeitungen hatten nicht ohne Lust am Voyeurismus mit Kupferstichen und Zeichnungen vom großen Drama berichtet: Bilder von schreienden, verkohlten, stürzenden Menschen kannte man von diesem Ort. Am 14. Mai 1891 wiederholte sich die Geschichte, als Freuds junge Patientin Pauline Silberstein im Treppenhaus des Sühnhauses in den Tod sprang. Im Herbst des gleichen Jahres zog Freud aus und übersiedelte in die Berggasse, die man heute als Freuds einzige Wiener Wohnung und Praxis kennt. Noch im Jahr 1952 riss die Stadt Wien das im Krieg nur oberflächlich beschädigte Sühnhaus samt Freuds früherer Wohnung und Praxis ab.

Das Grab der Ringtheatertoten auf dem Zentralfriedhof, im Jahr 1881 mit großem Pomp und vielen Reden errichtet, lässt die Stadt verfallen.

Wie bei Menschen der Fall, glaube ich, dass auch Städte, oder, um es allgemeiner zu sagen Gesellschaften Dinge verdrängen. Der Ringtheaterbrand ist so ein unliebsamer Vorfall. Ein Sündenfall, wenn man so will, der untergründig bis heute weiter schwelt.

Das Sühnhaus selbst war ein Zudeckbau, der diesen Sündenfall verschleiern sollte, ja in sein Gegenteil verkehren wollte: eine mildtätige Geste des Kaisers, dessen System der sozialen Ungerechtigkeit doch die Brandkatastrophe erst recht begünstigt hatte.

Aber manchmal wächst aus einer Aktion eine ganz anderer Reaktion als erwartet: Ich sehe Freuds radikale Wendung zur Redekur kurz nach seinem Auszug aus dem Sühnhaus auch als eine Reaktion auf die Krise, die er nach dem Tod der Patientin im Sühnhaus durchlebt haben muss. Er, der im Sühnhaus mit der damals üblichen Hypnose, mit elektrischen Apparaten und dem Verschreiben von Wasserkuren „Pfusch betrieb“ und das durchaus selbst wusste (wie aus den wenigen aus dieser Zeit erhaltenen Briefen hervorgeht), entschied sich nun für unbedingte Offenheit. Oder, im meinem Sinne gesprochen: dafür, in den tief verschütteten Erinnerungen seiner Patientinnen und Patienten zu forschen und das im Keller Verschüttete ans Tageslicht zu befördern.

Mit Freuds Traumdeutung, seinen Schriften über das niemals absichtslose Vergessen und seinem Aufsatz »Über das Unheimliche« im Hinterkopf – machte ich mich also in Wien auf die Suche nach den verschütteten Trümmern des Ringtheaters und des Sühnhauses und dokumentierte diese Suche gemeinsam mit Kameramann Martin Putz, anfangs das Tonaufnahmegerät noch selbst in der Hand, später mit professionellem Ton.

Ich erfuhr, dass man in Wien mit den Trümmern des Ringtheaters einen regelrechten Reliquienkult betrieben hatte: Trümmer findet man in allen möglichen Museen, die Säulen von der Theaterfront wurden vom Ruß gereinigt und in einer Kirche am Stadtrand wieder verbaut. Aber auch Reste des Sühnhauses sind erhalten: Neugotische Steinbrocken in einem Vorgarten im Wiener Norden. Die Stiegenhausfenster des Sühnhauses in einer kleinen Holzkirche am Stadtrand, deren polnischer Pfarrer uns herzlich empfängt. Die Reste des pompösen Sühnhauses sind heute der wertvollste Schmuck einer „Armeleutekirche“. Leider fanden nicht alle Seitenstränge der Geschichte von Ringtheater und Sühnhaus im Film Platz. Wichtiger wurde mir und dem Cutter und Dramaturgen des Films, Oliver Neumann, im Verlauf des Schnittes, die vielen Fundstücke und Erzählstränge einem klaren Gedanken unterzuordnen: Kann man einer Gesellschaft das Erinnern und Vergessen von oben verordnen? Und falls ja, was passiert mit dem Verdrängten? Schaffen wir uns so unsere eigenen Geister?

Und damit wäre ich wieder bei meiner eingangs Beschriebenen Faszination für Geisterglauben und räumliche Angst. Kann es sein, dass es am Schottenring 7, an der Adresse des unglücklichen Ringtheaters, in dem in einer einzigen Stunde 400 Menschen starben, spukt? – Diese Frage hat mich parallel zu meiner historischen Recherche, zu meinen politischen Überlegungen wirklich interessiert. Ich kokettiere nicht mit Geisterglauben, denn zumindest bin ich selbst fest davon überzeugt, dass sich vergangene Ereignisse in die Atmosphäre eines Ortes einschreiben. Dass Glück und Unheil in irgendeiner Form erhalten bleiben.

Und ich liebe es, Geschichten zu erzählen. Ich hoffe, das spürt man – und nimmt meinen Film »Sühnhaus« als das wahr, was er sein will: ein Geisterhausfilm – im C.G. Jung’schen – und vielleicht auch im ganz konkreten Sinn.